07.06.2016

Der Häuserdoktor von Cuenca von P. Josef Steinle CSsR in "Briefes an unsere Freunde" (66. Jahrgang, Nr. 3, Juni 2016, B 7672)

Atahualpa besucht jetzt die 5. Klasse der Deutschen Schule in Cuenca in Ecuador. Es ist die beste Schule der Stadt, mit hohen Leistungsanforderungen. Der Bub stammt aus einer armen Familie, seine Mutter kann kaum Lesen und Schreiben. Ein Stipendium der Johannes-Stiehle-Stiftung macht ihm den Schulbesuch möglich.

Diese Geschichte entdecke ich in einem Blatt, das die Stiftung herausgibt. Ich besuche deshalb den Vorsitzenden Dekan Sigmund Schänzle aus Ochsenhausen in Württemberg. Er fängt gleich zu erzählen an. „Der Dom von Quito in Ecuador erhielt eine Orgel aus Frankreich. Aber niemand konnte sie einbauen. Da beauftragte der Bischof den Bruder Johannes Stiehle damit. Obwohl dieser kein Fachmann war, schaffte er es. Die Orgel funktioniert noch heute.“

Diese Geschichte spielte im 19. Jahrhundert. Johannes Baptist Stiehle ist 1829 in Dächingen bei Ehingen geboren. Er lernte Schreiner und Schmied und trat 1850 bei den Redemptoristen in Teterchen/Lothringen ein. Denn in Württemberg war die Kongregation nicht zugelassen. Seine große Zeit begann, als er 1873 vom Provinzial nach Ecuador geschickt wurde. Der Einbau der Orgel im Dom von Quito war ein bescheidener Anfang seiner Tätigkeit.

„Der Bruder war ein Genie“, findet Dekan Schänzle. Ohne eine entsprechende Ausbildung wirkte Bruder Johannes in Ecuador als Architekt und Künstler. Das größte kirchliche Bauwerk Südamerikas, die Kathedrale von Cuenca, ist sein Werk. Sie zählt seit 2000 zum Weltkulturerbe.

Dem Bischof von Cuenca hatte der Bruder einen Plan für die neue Kathedrale präsentiert. Doch dieser war nicht einverstanden. „Ich brauche eine Kathedrale, die so groß ist wie der Glaube der Cuencaner“, entgegnete er. So musste der Bruder neu planen. Den alten warf er nicht weg. „Ein Schwabe lässt nichts verkommen“, sagt Dekan Schänzle. In Kolumbien wurde nach diesen Plänen eine Kirche errichtet.

Es war eine von vielen. Daneben plante er Häuser, Klöster, Brücken, Schulen , Krankenhäuser, er sanierte Bauten, die vom Erdbeben geschädigt waren. „Häuserdoktor“ nannten ihn die Leute. Für viele Kirchen entwarf er die Innenausstattung und nahm auch selbst Werkzeug in die Hand, um Altäre zu gestalten. Dies konnte er nur bewältigen, weil er Tag und Nacht fast ununterbrochen gearbeitet hat.

Dabei blieb Bruder Johannes ein tief gläubiger Mann. „Er hat sein Genie mit dem Glauben verbunden“, sagt Dekan Schänzle. Sichtbar wird dies aus den Briefen, die der Bruder an Angehörige geschrieben hat. Diese sind zum großen Teil erhalten. Der längste umfasst 116 Seiten. Darin schreibt er wie ein Kathechet, erläutert Glaubensgeheimnisse und zeigt, wie er Gott verbunden ist. „Wer recht zu beten weiß, weiß auch recht zu leben“, sagt er einmal.

Als Bruder Johannes 1899 in Cuenca starb, strömten alle aus der Stadt zu seiner Beerdigung. „Er ist ein Heiliger“, erklärten die Leute. „Er ist in den Himmel eingegangen.“ Die Leute bewahrten ihm ein ehrendes Andenken. 1996 wurden seine Gebeine in die Kathedrale von Cuenca überführt. Der Seligsprechungsprozess ist eingeleitet. In seiner Heimat Dächingen erinnerte man sich kaum noch an diesen Mann. Deshalb gründeten ein Verwandter, Franz Holzmann, und Sigmund Schänzle 1988 einen Verein. Dessen Ziel: Das missionarische Werk von Bruder Johannes zu fördern. Unter anderem unterstützt der Verein soziale Projekte in Ecuador.

In Dächingen bauten die Mitglieder ein Archiv auf. Wie wertvoll es ist, zeigte sich kürzlich. Aus Cuenca kam ein Professor, der die Restaurierung der Kathedrale vorbereiten soll. Er war erstaunt, was er in Dächingen fand: Pläne, Skizzen und Briefe, die Bruder Johannes während des Baus schrieb. Es war ihm eine große Hilfe.